Kristinas Blog

Das Auge als Pforte zur Seele oder
nichts ist selbstverständlich

Das Auge als Pforte zur Seele

Ein folgenschwerer Notfall

Vor einem Jahr hatte ich eine Netzhautablösung im rechten Auge – ausgelöst durch einen heftigen Albtraum, der mich immer wieder heimsucht. Bei einer Netzhautablösung zählt jede Stunde, um diese innere Augenhaut zu erhalten, ohne die Sehen nicht möglich ist. Doch leider war ich auf einer kleinen Mittelmeerinsel, ich flog zurück – fliegen ist in dem Fall absolut schädlich. Ich deutete die Symptome nicht richtig. Und ich ließ mich von der Sprechstundenhilfe meiner Augenärztin abwimmeln. Heute weiß ich: Ich setzte mich nicht für mich ein. Ich stand neben mir, obwohl ich fühlte: Hier stimmt etwas ganz und gar nicht.

In der Augenklinik wurde ich schließlich unter Vollnarkose über eine Stunde notoperiert. Im OP-Saal waren zahlreiche freundliche Menschen, die meinen Körper mit Nadeln und Schläuchen und Geräten verbanden. Ich atmete bewusst tief und gleichmäßig, war hochkonzentriert – und ließ mich ganz fallen. Voller Vertrauen. Ich spürte: Für mich ist gesorgt. (Hätte ich vorher gewusst, was bei so einer OP alles mit dem Auge angestellt wird, wäre ich nicht so ruhig gewesen.)

Einzig die Reaktion meines Freundes zeigte mir, dass die OP eine größere Angelegenheit war. Er sagte alle beruflichen Termine ab (was normalerweise un-denk-bar ist) und war sofort an meiner Seite. Vor der OP weinte er und danach auch. Nur auf einem Auge sehend – das operierte Auge war komplett zugeschwollen –, wurde ich nach zwei Tagen entlassen. Bedingung: täglich Augentropfen, wöchentlich Termine in Klinik und bei Augenärztin und bis zu vier Wochen Bauchlage und Kopf-unten-Haltung. Das sollte dafür sorgen, dass die Netzhaut wieder anwuchs. „Ansonsten hilft jetzt nur beten, Frau Grasse“, sagte meine Ärztin.

Die Sicht nach innen

Durch das bei der OP hinter den Augapfel eingeleitete Gas (das die Netzhaut an den Augapfel drückt, damit sie anwächst) sah ich mit diesem Auge die Welt wie unter Wasser. Ich lag auf dem Bauch, drapierte die Kissen so, dass das Auge optimal lag. Nach einer Weile begann ich zu weinen. Nicht aus Selbstmitleid, ich ließ einfach alle Gefühle zu. Das Weinen entlastete mich. Ich weinte, weil ich die Schmerzen annahm. Ich beweinte den Verlust meiner gewohnten Sehfähigkeit. Ich weinte, weil ich verstand, dass ich die Verantwortung dafür trage. Ich weinte, weil ich mich nicht gut für mich eingesetzt hatte. Ich weinte, weil ich die Situation akzeptierte und doch voller Trauer war. Tage-, wochenlang hörte ich vor allem Bach, die Goldberg Variationen. Ich weinte. So lange, bis ich einschlief.
So vergingen ein Tag, zwei Tage, schließlich eine Woche, zwei Wochen, vier Wochen. Nach vier Wochen war das Gas absorbiert. Mit dem operierten Auge sehe ich derzeit ca. 40 %. Eine Brille hilft da nur bedingt, denn sie stellt nur die Linse scharf, aber nicht die Netzhaut, die zwar wieder sehr gut angewachsen, aber wie eine beschädigte Leinwand ist. Die lässt sich nicht scharfstellen. In der Klinik sagte man mir jetzt, dass sie für immer lädiert ist: Zu viel Nervengewebe sei bei der Ablösung abgestorben. Als Folge trübe die Linse nun immer mehr ein, sie müsse ausgetauscht werden. Wieder lasse ich die Tränen laufen und lasse los …

Viele Fragen beschäftigen mich seitdem:

  • Was will, kann oder soll ich auf der aktiven rechten Seite nicht sehen?
  • Was will mir mein krankes Auge sagen?
  • Wozu zwingt mich diese schwere Netzhautablösung?
  • Soll ich mein erstes Standbein als professionelle Leserin aufgeben?
  • Soll ich mich noch mehr auf mein inneres Sehen fokussieren?
  • Wieso bin ich meiner inneren Stimme nicht gefolgt?
  • Zu welcher Einsicht (!) soll ich kommen?
  • Wer kann meine Schwäche ertragen?
  • Auf wen kann ich mich blind (!) verlassen?
  • Gab es ein Augenproblem oder gar eine Erblindung in einem meiner früheren Leben?
  • Und was hat all das mit meiner Prägung zu tun?

Verlust und Annehmen

Ich empfand und empfinde einen großen Verlust. Ich merke, wie viel ich mit den Augen mache: Lesen, Schreiben, Gucken. Dass ich für meine Arbeit das Sehen brauche – außer für die Dualseelen-Beratung. Nach der OP auf dem Weg zur Klinik oder zur Augenärztin setzte ich langsam einen Schritt vor den anderen. Überholte mich jemand von rechts, fuhr ich zusammen. Mit dem gesunden Auge sah ich in der U-Bahn nun all die Versehrten, die Gehandicapten. Die Langsamen, die nicht schneller können. Bei jeder Treppe griff ich zum Handlauf, unsicher, zögernd. Den Boden unter den Füßen nahm ich anders als sonst wahr: jede Vertiefung, jede Erhöhung eine Stolperfalle.

Mein Selbst wie meinen Augapfel hüten

Ich beschloss, mich nach dem Befinden meines operierten Auges zu richten, die Unschärfe dieses Auges zu akzeptieren und das innere Sehen willkommen zu heißen. Die rechte Körperhälfte symbolisiert den rationalen Anteil. Sie ist die aktive Seite und repräsentiert die Beziehung zur Außenwelt. Mein rechtes Auge hat mich in diesem Bereich ausgebremst. Das linke Auge – die Seite der inneren Sicht, des Herzens – übernimmt nun komplett die Führung. Ich bin dankbar, dass es gesund ist und so gut sieht. Nichts ist selbstverständlich.
Meine innere Stimme sagt mir, dass ich versäumt habe, mein Selbst wie meinen Augapfel zu hüten. Dass ich jede Aktivität im Außen aus einem gut beschützten inneren Raum, aus meinem Herzen heraus angehen sollte – und zwar ohne Ausnahme.

Heilungsweg

Mein Umfeld empfindet mich als sehr geduldig und äußerst tapfer. (Auch eine Prägung, ein Muster, das viele als positiv empfinden, obwohl die Ursache dafür traurig ist.) Es stimmt: Ich bin seelisch-energetisch eine Langstreckenläuferin. Ich verfüge über einen langen Atem, über große Ausdauer. Ich gebe so schnell nicht auf. Aber ich weiß jetzt endlich auch: Ich muss nicht mehr tapfer sein, auch wenn ich den aktuellen Zustand akzeptiere. Ich würdige mein gesundes Auge und die Heilungsfähigkeit meines operierten Auges. Ich bin dankbar, dass ich auch so die Welt betrachten kann. Ich setze Grenzen: Sind meine Augen müde, schließe ich sie, lass sie ruhen, schlafen. Und ich sehe nach innen und versuche, präsent zu bleiben in dieser Energie. Ich hüte meinen Augapfel wie mein Selbst, und mit dieser Haltung verbinde ich mich im Herzen mit denjenigen, die mich wertschätzen. Auch das habe ich durch den Dualseelenprozess gelernt.

© Kristina Grasse, Oktober 2023

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Foto (Ausschnitt) von © Elisabeth Pfahler-Scharf

Blog Dualseele und Liebesleid

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4 Kommentare

  1. Liebe Kristina,

    wow! Vielen Dank für diesen ehrlichen Bericht und das Teilen deiner Gedanken und Gefühle.
    Ja, Gesundheit ist das höchste Gut, das wir haben. Und doch treten mir unseren Körper so oft mit Füßen, übertreten die Grenzen unserer Fähigkeiten.
    Es tut mir so leid, dass du dies auf so harte Weise erfahren musstest.

    Es ist wirklich so schwer, nicht mehr zu funktionieren und sich nach innen zu besinnen, um den Herzensweg ganz klar zu erspüren. Und wir alle, die wir auf diesem Weg sind, werden wohl immer wieder mal solche Dämpfer erfahren, bis wir es schaffen, uns wahrhaft mit uns selbst zu verbinden und aus dem Herzen heraus zu leben.

    Ich merke bei mir auch immer wieder wie hartnäckig diese erlernten und angeeigneten Muster sind. Wie sie im Grunde oft unbewusst ablaufen.

    Ich wünsche dir von Herzen, dass du all deine oben erwähnten Fragen für dich beantwortet bekommst und deinen Herzensweg nicht mehr übersiehst.

    Herzlichst, Carla

    Antworten
    • Liebe Carla,
      hab vielen Dank für Deinen schönen Kommentar. Es sind oft die kleinen Anzeichen, die wir übersehen bzw. übersehen wollen und die dann so eine große Wirkung haben können. Alles Liebe für Dich, von Herzen, Kristina

      Antworten
  2. Liebe Kristina, es tut mir sehr leid, dass Dir diese Netzhautablösung passiert ist und Du lernen musst, damit umzugehen. Mir ist dazu ein Beispiel eingefallen, das Dir vielleicht ein bisschen Mut machen kann: Als ich vor zwanzig Jahren Französisch studiert habe, hatte ich mehrere Seminare und Vorlesungen bei einem Literaturprofessor der Romanistik, bei dem sich zehn Jahre zuvor, mit Anfang 30, während einer Reise auf beiden Augen die Netzhaut ablöste. Er war also ein Literaturprofessor, der nicht mit den Augen lesen und uns Studenten auch nicht sehen konnte. Er hat sich alle Bücher und alle Hausarbeiten auf Tonband aufsprechen lassen, alle Vorlesungen aus dem Gedächtnis gehalten. Er war der beste Literaturlehrer, den ich je hatte, und einer der belesendsten Menschen, die ich kenne.
    Ich wünsche Dir Glück auf Deinem Heilungsweg!

    Antworten
    • Lieber Tino,
      hab vielen, vielen Dank für Deinen aufbauenden Kommentar, Dein ehemaliger Prof beeindruckt mich sehr. Herzliche Grüße, Kristina

      Antworten

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